Teil 1: Von Nöten und Lösungsversuchen

Familien, in denen die Generationen miteinander gut auskommen - gibt es die wirklich? Die Oma hütet die Enkelkinder, drängt sich aber nicht auf und respektiert die Erziehungsvorstellungen der Eltern. Der Vater ist stolz auf seinen Sohn, der es beruflich zu etwas gebracht hat, und der Sohn lässt es sich gefallen, dass sein Vater ein wenig mit ihm angibt - der Vater braucht das wohl nach allem, was in seinem Leben schief gelaufen ist. Und einmal im Jahr gibt es sogar einen Drei-Generationen-Urlaub in der familieneigenen Hütte in den Bergen, auf den sich alle schon lange vorher freuen. Wer von den Geschwistern es einrichten kann, kommt gerne. Eltern und erwachsene Kinder lassen einander gelten, und zugleich weiß man sich als Familie einander zugehörig.

Nach allem, was Sie aus Ihrer eigenen Familie oder Ihrem persönlichen Umfeld kennen: Können Sie sich so eine Familie überhaupt vorstellen? Ist sie ein Idealbild, das der Überprüfung an der Wirklichkeit nicht standhält? Möglicherweise. In jedem Fall ruft dieses Bild neben aller Skepsis eine tiefe Sehnsucht hervor: Endlich Frieden mit den Eltern! Endlich respektiert werden und nicht mehr als Kind behandelt und vereinnahmt werden! Endlich das ruhen lassen können, was es Schlimmes gab! Endlich das eigene Leben leben!

Wir möchten Sie einladen, im ersten Teil unseres Buches sowohl einen Blick auf die verschiedenen Baustellen zu werfen, die erwachsene Kinder bezogen auf ihre Eltern haben können, als auch auf die unterschiedlichen, nicht wirklich erfolgreichen Bemühungen, diese Baustellen zu schließen. Sie werden verstehen, warum manches nicht funktionieren kann. Im Umkehrschluss lassen sich bisweilen aus dem, was nicht funktioniert, überraschende Erkenntnisse gewinnen, wie Fortschritte erreicht werden können.



Ungeklärte Elternkonflikte sind die Lebenskonflikte überhaupt.
Barbara Dobrick

Ständig Stress mit den Eltern

Menschen, die sich mit ihrer Mutter oder mit ihrem Vater oder mit beiden schwer tun, berichten von vielerlei unterschiedlichen Nöten. Unsere Liste dazu ist lang. Manches wird Ihnen vermutlich vertraut sein:

„Nichts kann ich meiner Mutter recht machen, nie ist sie zufrieden."
„Meine Mutter behandelt mich mit meinen 40 Jahren immer noch so, wie wenn ich nicht alleine zurecht käme. Für sie bin ich immer noch das Kind, obwohl ich schon lange verheiratet bin und selber Kinder habe."
„Sie will immer haarklein wissen, was ich gemacht habe, was mich beschäftigt, was ich plane."
„Mein Vater hat die Vorstellung, dass ich als Sohn jederzeit für ihn da zu sein habe, wenn's was anzupacken gibt. Er meldet sich nur, wenn er von mir etwas will."
„Meine Mutter würde am liebsten auch noch bestimmen, was ich anziehe und was für eine Frisur ich trage."
„Meine Mutter erwartet mehr an Zuwendung von mir, als ich leisten kann - tägliche Telefonate, wöchentliche Besuche; ich bin ständig in Bereitschaft."
„Da ich arbeitslos bin, machen meine Eltern mir Druck: Ich hätte die Kündigung vermeiden können, ich soll mich intensiver um eine neue Stelle kümmern, wir müssten halt mehr sparen ..."
„Meine Mutter mischt sich ständig in die Erziehung unserer Kinder ein."
„Weil ich mich von meinem Mann getrennt habe, machen mir meine Eltern das Leben schwer. Erst hat er ihnen nicht gepasst, und jetzt nehmen sie Partei für meinen geschiedenen Mann und geben mir allein die Schuld, dass die Ehe gescheitert ist."
„Mein Vater ist ständig im Clinch mit meinem Mann, und an unserem Ältesten macht er auch dauernd herum."
„Meine Eltern interessieren sich überhaupt nicht für mich. Nie rufen sie an. Besuche finden nur bei der Familie meines Bruders statt. Das war schon immer so, dass er bevorzugt wurde und ich nicht wichtig war."

Vielleicht wollen Sie kurz prüfen, was Ihre persönlichen Themen sind? Wodurch müsste diese Zusammenstellung speziell für Sie ergänzt werden?

Hinter jeder einzelnen dieser Äußerungen steht in der Regel eine leidvolle, individuelle Geschichte des Erduldens oder des Kämpfens. Manche Kinder haben sich immer wieder Einmischung verbeten, andere haben mit Engelszungen argumentiert, sie haben Wünsche erfüllt oder vielerlei Kompromisse gemacht. Doch alle Anläufe, zu einem vernünftigen Miteinander zu kommen, waren vergeblich. Der Vater oder die Mutter oder beide verhalten sich nach wie vor „unmöglich", sind nie zufrieden, verweigern Gespräche, rauben dem Sohn oder der Tochter den letzten Nerv.

Die aktuellen Nöte reichen meistens, wie im letzten Beispiel, bis in die Kindheit zurück. Das in der Kindheit Erlebte ist oft sogar das eigentliche Thema, welches in der Tiefe belastet. Das erklärt die Erbitterung des Kampfes, der zwischen manchen Eltern und Kindern tobt. In anderen Fällen kann das Verhältnis zu den Eltern nach außen recht normal erscheinen. Man hat sich arrangiert und lässt die Vergangenheit bewusst außen vor: „Es lässt sich ja sowieso nichts mehr daran ändern." Wenn da nur nicht immer wieder diese Reibereien wären und die gelegentlichen heftigen Konflikte ...

Viele Menschen kennen Schwankungen, was das Verhältnis zu ihren Eltern betrifft. Phasenweise kommen sie besser mit ihnen zurecht, dann wieder schlechter. Manchmal lassen sich Gründe dafür finden, manchmal auch nicht. Wenn sie zum Beispiel hören, was andere in ihrer Kindheit alles mitmachen mussten oder immer noch seitens ihrer Eltern aushalten müssen, kommen ihnen die eigenen Erlebnisse plötzlich nicht mehr so extrem schlimm vor. Umgekehrt, wenn andere davon erzählen, wie schön es bei ihnen daheim war und welch harmonisches Miteinander auch jetzt noch in der Familie herrscht, fallen sie wieder in ein tiefes Loch. Manchmal wissen sie nicht mehr, was angemessen ist und was nicht. Sie zweifeln an der eigenen Wahrnehmung und den eigenen Gefühlen. Und damit haben sie dann noch eine zusätzliche Last: „Vielleicht bin ich ja wirklich zu empfindlich. Ich müsste eigentlich doch besser mit meinen Eltern klarkommen."

Manchen Menschen gelingt es, über eine lange Zeit stabil zu bleiben, indem sie weitgehend ihr eigenes Leben leben. Doch bei Veränderungen im Leben der Eltern, etwa wenn Vater oder Mutter plötzlich pflegebedürftig werden, können ungelöste alte Konflikte mit Macht aufbrechen. Auch einschneidende Ereignisse im eigenen Leben wie der Verlust des Arbeitsplatzes, das Scheitern der Ehe oder eine schwere Krankheit können alles bisher Geltende in Frage stellen. Oft zeigt sich dann, wie brüchig das Fundament des eigenen Lebenshauses ist. Die Vergangenheit mit ihren Enttäuschungen und unerfüllten Erwartungen lässt sich nicht länger ignorieren.

Der inzwischen verstorbene Regisseur Christoph Schlingensief fasste diese Erfahrung nach seiner Diagnose Lungenkrebs in einem Interview in folgende Worte: „Da knallt es plötzlich im Leben, und alle Sicherungsmaßnahmen sind erst einmal außer Kraft gesetzt, auch das Verhältnis zu mir und darüber hinaus zu meinen Freunden, meiner Lebensgefährtin, meinem verstorbenen Vater und meiner kränkelnden Mutter …" Schlagartig wird ihm klar, wie es um seine Beziehung zu seinen Eltern steht: „Natürlich habe ich in meinem bisherigen Leben extrem um Anerkennung gekämpft. Mir war wahnsinnig wichtig, dass ich geliebt werde, auch von meinen Eltern, dass sie sehen, aus ihrem Jungen ist doch etwas geworden …"

Wie Menschen mit ihren Elternnöten umgehen, ist also phasenweise und individuell verschieden. Von außen betrachtet erscheinen manche Strategien eher förderlich als andere, und für Familienmitglieder oder Freunde, die den Kampf gegen Windmühlenflügel oder eine Art Vogel-Strauß-Verhalten miterleben, ist das Zuschauen bisweilen schwer. Zum Teil machen sie sich Sorgen, zum Teil schütteln sie den Kopf. Sie würden manches ganz anders machen, bis hin zu dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vorwurf: „So wie du dich verhältst, brauchst du dich nicht zu wundern, dass es immer wieder knallt; dass die Eltern beleidigt sind; dass sie dir gute Ratschläge geben."

Hilfreich für die Betroffenen sind solche Botschaften natürlich nicht. Sie erzeugen zusätzlichen Stress. Vielleicht kennen Sie das aus eigener Erfahrung. Wenn ich sowieso schon kämpfe oder verletzt bin, ist Kritik das, was ich am wenigsten brauchen kann. Was ich dann von den Menschen um mich herum brauchen würde, wäre Verständnis oder zumindest Respekt.

Als besonders belastend erleben es viele Erwachsene, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit ihren Eltern vom eigenen Ehepartner im Stich gelassen oder kritisiert fühlen. Oft ist es für die Ehefrau schwer auszuhalten, wenn ihr Mann „typisch Mann" wenig sagt, alles mit sich selbst abmacht, die Probleme klein redet oder ignoriert. Sie möchte vielmehr, dass ihr Mann „in die Gänge" kommt. Er soll endlich seiner Mutter Grenzen setzen oder das schon lange geplante Gespräch mit seinem Vater führen, er soll dies tun und jenes besser lassen. Für den betroffenen Ehemann entsteht dadurch zusätzlicher Druck: Nun hat er eine weitere „Baustelle", weil seine Frau so unzufrieden mit ihm ist und ihn nervt.

Andererseits fühlt sich so mancher Ehemann von dem „typisch weiblichen" Bedürfnis seiner Frau nach Gespräch und aktiver Unterstützung überfordert. Wenn schon kein Gespräch mit den Eltern über die konflikthaften Themen möglich ist, möchte sie wenigstens ausführlich und wenn nötig immer wieder mit ihrem Mann darüber reden. Hält er das für sinnlos oder reagiert genervt, weil es immer um dieselben Geschichten geht, fühlt sie sich allein gelassen und eher stärker belastet als erleichtert.

Probleme mit den eigenen Eltern können, so die leidvolle Erfahrung vieler erwachsener Kinder, das ganze Leben überschatten und viel Kraft kosten. Sie ziehen oft weitere Konflikte nach sich - auf der Paarebene, mit den eigenen Kindern, die die Nase voll haben von den Streitereien und Klagen, mit den Geschwistern, die meist alles ganz anders sehen. Familienfeste werden oft anstrengend, Geburtstagsbesuche zu bedrohlichen oder lästigen Veranstaltungen. Es könnte alles so schön sein, wenn die Eltern endlich einiges begreifen und sich ändern würden ...


In die Fremde mit hinaus kannst du größeren Schatz nicht tragen als den Traum vom Elternhaus, als das Glück aus Kindertagen. (aus einem alten Poesiealbum)

Es war so schlimm

Die Kindheit ein Schatz? Kindertage voller Glück? Für viele Menschen ist der „Traum vom Elternhaus" eher ein Alptraum, der sie auch nach langen Jahren und räumlich fern von den Eltern nicht los lässt. Nach allem, was sie erlebt haben, muss ihnen der zitierte Vers wie blanker Hohn vorkommen.

Immer wieder sind wir betroffen, wie viele unserer Klientinnen und Klienten in ihrer Kindheit Schlimmes erfahren haben: Schläge vom Vater oder Stiefvater, oder von der Mutter; sexueller Missbrauch durch Familienangehörige; alkoholkranke Eltern. Daneben gibt es eine Vielzahl von weniger spektakulären, aber ebenfalls schmerzlichen Kindheitserfahrungen, die mit dem Verhalten von Vater und Mutter zusammenhängen: Die Eltern waren ungerecht, haben Schwester oder Bruder bevorzugt, gaben immer dem Kind die Schuld, hatten nie Zeit für das Kind, waren extrem streng, hatten kein Verständnis für die kindlichen Nöte, stellten sich bei Problemen nicht hinter das Kind, überforderten es mit ihren Erwartungen und Forderungen, stellten es vor anderen bloß.

Viele hatten das Gefühl, sie hätten „anders" sein sollen, so wie der Bruder, der immer als Vorbild hingestellt wurde, oder so wie die Schwester, die der Liebling des Vaters war. „Nie war es genug, was ich geleistet habe", so eine Klientin: „Ich war nicht gut genug in der Schule, daheim nicht fleißig genug, nicht so zuverlässig und geschickt wie meine große Schwester. Dass mein Vater mal mit mir zufrieden gewesen wäre, daran kann ich mich nicht erinnern. Die ständige Abwertung war das eigentlich Schlimme, ich galt überhaupt nichts."

Solche Verletzungen heilen oft nur unvollständig. Die vernarbten Stellen bleiben auf Dauer empfindlich oder brechen bei entsprechenden Anlässen wieder auf. Das ist nach den Erkenntnissen der neueren Gehirnforschung auch kein Wunder. Dem Hirnforscher Gerald Hüther zufolge sind die frühen Erfahrungen eines Kindes besonders fest und tief im Hirn verankert, besonders wenn sie sehr intensiv waren, wenn sie sozusagen unter die Haut gegangen sind. Dann schleppen Menschen sie sehr lange mit sich herum.

Wenn es zu den negativen Kindheitserlebnissen mit den Eltern kein Gegengewicht gibt durch entsprechende positive Erfahrungen, fühlt sich das Kind ungeliebt. „Meine Eltern haben mich nicht geliebt", diese Kurzfassung des kindlichen Erlebens hören wir häufig. Manchmal bezieht sich diese Aussage nur auf den Vater oder nur auf die Mutter, zum anderen Elternteil hin fühlt es sich besser an. Doch der Schmerz wird dadurch allenfalls etwas gemildert, nicht aber aufgehoben.

Eine besondere Problematik haben oft die Kinder, die sich als „eigentlich nicht erwünscht" bezeichnen. Die Schwangerschaft war nicht geplant, sondern war ein so genannter Unglücksfall; die Eltern wollten gar kein Kind und „mussten" heiraten. Oder: „Eigentlich hätten die Eltern nach drei Jungen ein Mädchen gewollt, und jetzt - ein Nachkömmling und wieder ein Junge." Für viele ist es schlimm, wenn sie erfahren, dass an Abtreibung gedacht wurde oder dass sie einen Abtreibungsversuch überlebt haben. Sie erleben sich als unerwünscht und können es nicht glauben, wenn ihnen später gesagt wurde, natürlich seien sie dann doch willkommen gewesen. Besonders wenn die Ehe der Eltern nicht glücklich ist, fühlen sie sich schuldig und als Last.

Von einer schlimmen Kindheit berichten auch Erwachsene, die „eigentlich" eine ganz liebe Mutter und/oder einen ganz lieben Vater hatten, bei denen aber die familiären oder wirtschaftlichen Verhältnisse so schwierig waren, dass von einer glücklichen Kindheit nicht die Rede sein kann. Aus unterschiedlichen Gründen gab es häufig Streit zwischen den Eltern: der Vater hat getrunken; die Mutter konnte nicht mit dem ohnehin knappen Geld umgehen; die Familie wohnte im Haus der Großeltern, diese mischten sich ständig ein. Oder die Eltern lebten nebeneinander her, es wurde nicht viel geredet, es herrschte eine unpersönliche oder bedrückende Atmosphäre. Und wenn überhaupt gesprochen wurde, ging es meistens ums Geld.

In anderen Familien bestimmte Krankheit den Alltag, wie bei Frau B.: „Meine Mutter war ständig krank. Wenn ich darüber nachdenke, kenne ich sie eigentlich nur krank. Ich hatte schon als Kind den Eindruck, sie hat sich in ihre Krankheit geflüchtet. Sie war nach allem, was ich weiß, ein verzärteltes Einzelkind, und durch ihr ständiges Kranksein drehte sich alles um sie. Ich hatte einerseits Mitleid mit ihr, wenn es ihr so schlecht ging, andererseits war ich aber auch wütend auf sie."

In der Familie von Herrn D. stand der jüngste Bruder immer im Mittelpunkt, der durch eine leichte geistige Behinderung besondere Aufmerksamkeit brauchte. Die älteren Geschwister wurden einerseits in die Betreuung eingespannt, waren sich aber andererseits weitgehend selbst überlassen.

„Wir waren nie eine richtige Familie", so lautet das Lebensthema vieler Erwachsener, die nicht mit beiden leiblichen Elternteilen aufgewachsen sind. Der Bericht von Frau Z. ist typisch: „Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich klein war. Ich bin bei der Mutter geblieben und hatte kaum Kontakt zu meinem Vater. Es gab auch nach der Trennung ständig Zoff zwischen den Eltern, ums Geld und um die Besuchsregelung. Mit meinem Stiefvater, den es dann irgendwann gab, habe ich mich einigermaßen verstanden, aber eine richtige Familie waren wir nicht."

Ähnlich empfinden das auch Erwachsene, die zu einer Zeit, in der dies noch ein Makel oder zumindest noch nicht üblich war, unehelich geboren wurden und von Geburt an nur mit ihrer Mutter plus eventuell Großeltern zusammenlebten. Zu einer „richtigen" Familie gehörte einfach ein Vater dazu, so wie bei den meisten anderen Kindern.

Manchen ging es wie Herrn T.: „Kurz bevor ich in die Schule kam, hat meine Mutter meinen Vater und mich und meinen jüngeren Bruder verlassen und ist zu einem anderen Mann weit weg gezogen. Jahrelang hat sie sich dann nicht mehr um uns gekümmert. Die Hintergründe habe ich erst viel später erfahren. Bei uns im Dorf wurde über uns viel geredet, und die Leute haben uns mitleidig angesehen. Mein Vater hatte noch lange die Hoffnung, dass meine Mutter zurückkommen würde, und hat versucht, zusammen mit der Oma, eine gewisse Normalität herzustellen. Aber normal war unsere Familie für mich nicht."

Es gibt noch viele weitere Gründe, weshalb Menschen mit ihrer Kindheit hadern, egal ob die Familie vollständig war oder nicht. Öfter als man denkt, schämen sie sich ihrer Eltern: Der Vater war ungelernter Arbeiter, hatte nach dem Krieg nicht mehr richtig Fuß gefasst; der Großvater mütterlicherseits war strammer Nazi; die Mutter war Deutsche aus Bessarabien, Zeit ihres Lebens blieb sie ihrer einfachen bäuerlichen Herkunft verhaftet; der Vater war immer wieder in der Psychiatrie; die Mutter hatte massive Alkoholprobleme; der Vater hatte den Familienbetrieb gegen die Wand gefahren. Auch das Umgekehrte haben wir erlebt: Kinder schämen sich ihrer „guten Herkunft" oder des Reichtums ihrer Familie.

Manche haben sich nie als wirklich zur Familie gehörig gefühlt. Irgend etwas stimmte da nicht, entweder mit ihnen selbst oder mit der Familie. Sie waren so ganz anders als die Geschwister, die offenbar keine Probleme mit den Eltern hatten und auch sonst gut funktionierten. Außer ihnen stellte keiner den Eltern unbequeme Fragen zu Nazi-Zeit und Weltkrieg, und nur sie fanden es seltsam, dass es zur väterlichen Verwandtschaft keinen Kontakt gab. Offenbar gab es Tabus und Familiengeheimnisse, und es war besser, nicht daran zu rühren.